Kreuzfahrt am Ende? Gedankenspiele eines ehemaligen Besatzungsmitgliedes
Mathias Kokartis, ein ehemaliges Besatzungsmitglied an Bord diverser Kreuzfahrtschiffe, wurde oft mit der Frage konfrontiert, ob er die Kreuzfahrt am Ende sieht. Nachfolgender Beitrag gibt nicht nur eine Antwort auf diese Frage, sondern beschreibt auch, wie sich diese Antwort begründet und wie er die Monate zwischen der letzten Kreuzfahrt mit Passagieren bis zum 2. Lockdown in der Heimat erlebt hat.
Auf den Weltmeeren zu Hause
Eine Frage, die mir in den letzten Wochen immer häufiger gestellt wurde und welche auch in meinem Kopf immer wieder einmal herumschwirrt. Die letzten 11 Jahre habe ich an Bord verschiedener Kreuzfahrtschiffe, vom kleinen Globetrotter mit wenigen hundert Gästen bis hin zum internationalen, multilingualen Megaliner mit mehreren Tausend Passagieren, vom Budget Schiff für Familien bis hin zu einem der weltbesten Luxusliner verbracht.
In dieser Zeit übertraf sich die Kreuzfahrtindustrie mit immer neuen Superlativen. Rekorde an Passagierzahlen wurden Jahr für Jahr aufgestellt, eine ganze Branche explodierte und schwamm im Ruhm. Im Februar 2020 bin auch ich einmal mehr zu einem neuen Einsatz an Bord eines Kreuzfahrtschiffes in Richtung Kanaren gestartet. Corona gab es schon, war aber weit weg in China und für mich und meine Kollegen gar kein Thema. Ende Februar kämpften wir an Bord nicht mit einem Virus, sondern mit einem Sandsturm auf den Kanaren. Abreisende Gäste kamen durch geschlossene Flughäfen nicht nach Hause und die neu anreisenden Passagiere nicht zum Schiff. Ein drunter und drüber, das uns als Crew auf dem Schiff ganze zwei Wochen begleitet hat.
Der Tag, der die Kreuzfahrt veränderte
Gerade als es endlich wieder ruhig wurde und die normale Routine einkehrte, kam der 12. März 2020. Portugal und Spanien haben als erste Länder in Europa die Häfen für Kreuzfahrtschiffe geschlossen. Plötzlich wurde eine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Am Nachmittag ging ich noch auf der Promenade in La Palma spazieren, die Gedanken um die nächsten Tage kreisend, stand ich plötzlich vor einem tiefen Loch. Nach einigem Hin und Her bzw. mit viel Verhandlungsgeschick gelang es der Schiffsführung, eine Genehmigung zu erhalten, um die Gäste noch bis zum geplanten Reiseende an Bord behalten zu können und für die Ausschiffung im Hafen von Las Palmas anlegen zu dürfen. An diesem Sonntagnachmittag, den 15.03.2020, als wirklich alle Passagiere das Schiff verlassen hatten, waren wir erleichtert, dass es gelungen war, die Gäste auf den Heimweg zu bringen. Andererseits machte sich Unsicherheit breit. Was wird mit einem selbst nun passieren, war die Frage. Zwei Tage lang gab es keine nennenswerten Veränderungen, bis das Schiff mit der Crew an Bord den Hafen verlassen musste.
Champagner auf die Zukunft
In unserer kleinen Gruppe von Teammitgliedern haben wir eine Flasche Champagner geöffnet und zuversichtlich auf die Zukunft angestoßen. Nicht ahnend, was da noch auf uns zukommen sollte. Als das Schiff den Hafen verließ, konnten sich einige Kollegen jedoch die Sorgentränen nicht mehr verkneifen. Wie lange wird diese Situation andauern? Wie geht es jetzt weiter? Wann können wir unsere Lieben in der Heimat wieder in die Arme schließen? Als Führungskraft an Bord eines Teams war es nicht nur meine Pflicht, sondern mein persönliches Anliegen, mutig voranzugehen und Stärke zu zeigen und meinem Team quasi eine Schulter zum Anlehnen zu bieten. Ich denke, dies hat auch zusammenfassend ganz gut funktioniert. Eine Kollegin wiederum erlebte meine Zweifel und Emotionen, bot mir ihrerseits Ihre Schulter an. Zusammenhalten und Kraft geben war die Devise!
Aus Tagen wurden Wochen und Monate
Seitdem sind nun einige Monate vergangen, Monate die ich zunächst noch an Bord mit einem immer kleiner werdenden Team verbrachte. Mehr und mehr Kollegen konnten glücklicherweise in die Heimat reisen. Dazu kamen die tatsächlichen Corona-Infektionen an Bord (alle Betroffenen sind jetzt gesund, munter und wohlauf!) Dann kamen die Monate, die ich an Land und final auch daheim verbracht habe. Ich habe früh erkannt, dass die Kreuzfahrtindustrie in absehbarer Zukunft für mich keine Option mehr für einen sicheren Arbeitsplatz darstellt und habe mich umorientiert. Viele Kolleginnen und Kollegen taten dies ebenfalls, längst jedoch nicht alle. Die Gründe sind vielfältig. Zum Teil hat mich die Blauäugigkeit bzw. der Gedanke, wirklich zu glauben, dass bald alles wieder so ist wie im Frühjahr, etwas verwundert. In vielen Social Media Gruppen fragen immer wieder ehemalige Crewmitglieder nach, wann es wieder an Bord geht, wann man wieder Geld verdienen kann und wann es weitergeht? Was sollte einfach so weitergehen, fragte ich mich!? Die Reedereien waren im Sommer immer noch damit beschäftigt, die Crewmitglieder sicher in ihre Heimatländer zu bringen. Die Kreuzfahrtindustrie stand letztendlich völlig still. Da griff ein Zahnrad in das Andere. Auch an Land stand alles still. Agenturen haben geschlossen, Mitarbeiter entlassen. Man legt am Tag X nicht einfach den Hebel um und alles geht einfach weiter…
Eine Welle der Insolvenzen begann
Mitte Juni meldete die spanische PULLMANTUR Cruises als erste große Reederei die Insolvenz an. Schlag auf Schlag folgten dann die britische Cruise & Maritime Voyages samt Ihrer deutschen Marke TransOcean Kreuzfahrten, FTI Cruises und die Indische Jalesh Cruises. Reedereien wie Carnival verkauften Schiffe aus allen Ihrer Marken heraus an andere Reedereien oder gleich ganz zur Verschrottung. Vielen Schiffsliebhabern und Kreuzfahrtfans diverser Schiffe blutet das Herz und es scheint bis dato kein Ende in Sicht zu sein! Jeden Tag erwartet man, dass der nächste Schlag für die Kreuzfahrtindustrie folgt.
2. Lockdown bringt Ende des Neustarts
Seither hat es besonders in Europa Versuche eines vorsichtigen Neustarts gegeben. Reedereien wie Hurtigruten, Sea Dream, und schließlich auch MSC, TUI Cruises, Costa, sowie AIDA haben erste Reisen wieder mehr oder weniger erfolgreich durchgeführt. Es wurde die unerschöpfliche Energie und der Arbeitswille der Schiffscrews deutlich, die mit Liebe hinter dem stehen, was sie tun. Es wurde außerdem erkennbar, wo es noch etwas zu optimieren gibt und dass die ohnehin schon sehr hohen Hygienestandards an Bord von Kreuzfahrtschiffen sehr gut funktionieren. Ein Start zurück ins ’neue Normal‘ schien realistisch und es war etwas Licht am Ende des Tunnels zu erkennen. Nur wenige Kreuzfahrtschiffe fahren voraussichtlich Anfang November noch, darunter z.B. die Costa Smeralda. Doch das haben die Reedereien ohne die Politik geplant und es folgte nun der nächste Lockdown in Europa. Wieder ein herber Schlag für die Reedereien! Ich persönlich bin mir sicher, dass es bis zu einem wirklichen Neustart noch einige Insolvenzen, Schiffsverkäufe und Verschrottungen folgen werden.
Neuausrichtung möglich
Und dennoch, die Passagierschifffahrt hat sich in der Vergangenheit immer und immer wieder erholt. Ganz egal ob nach den Weltkriegen oder nach Wirtschaftskrisen. Die Passagierschifffahrt, heutzutage die Kreuzfahrt, hat es immer wieder auf die Beine geschafft und genau das denke ich, passiert auch nach der Corona-Krise wieder. Es wird einen neuen Anfang geben. Vielleicht ist dieser größte Einbruch in der Geschichte der modernen Kreuzfahrt gar nicht verkehrt, denn die Branche war extrem erfolgsverwöhnt. Es könnte sich die Chance ergeben, die Kreuzfahrt, als Reiseform, umweltfreundlicher zu machen und ihr ein neues Gesicht zu verleihen, abseits des großen Massenmarktes. Die nächsten Monate werden es zeigen.
Ich gehe davon aus, dass nicht Wochen, sondern Monate vergehen werden, bis die Kreuzfahrtschiffe wieder weitgehend den Routenplänen entsprechend operieren können.
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